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Ich vergeudete einen ganzen Tag, indem ich mich in dem alten Kummer über die schrecklichen Ereignisse suhlte, die mich vor so vielen Jahren heimgesucht hatten. Zu meiner Verteidigung muss ich jedoch sagen, dass als Folge meiner neuen Entdeckungen der alte Schmerz über den Verlust meines Sohnes jetzt wieder wie frisch für mich wirkte. Vielleicht sollte das nach zwei Jahrzehnten nicht so sein, nichtsdestoweniger verhielt es sich so.
Die Sonne stand hoch über der Burg, dem Hof und der gesamten Umgebung, doch ich konnte ihre Wärme nicht spüren. Die Blumen im Hofgarten zeigten ihre Freude über das Wetter, indem sie die Luft mit mächtigen Düften erfüllten. Ich saß zwischen einer Pfingstrose und einem Rosenstrauch auf einer Bank mit einem Sockel aus marmornen Engeln, deren dralle kleine Arme sich emporstreckten, um die hölzerne Sitzfläche zu stützen, auf der die Erschöpften Rast finden sollten, auch wenn die harten Bretter kaum Bequemlichkeit boten. Einige weiche gelbe Rosenblüten hatten sich eben geöffnet, als hätten ihre welkenden orientalischen Cousins ihnen den Auftrag gegeben, zu erblühen und die Aufgabe zu übernehmen, Insekten und Spaziergänger zu verführen. In meinem Schoß ruhte ein alter, aber noch brauchbarer Chorrock, ebenjener, dessentwegen ich angeblich nach Machecoul gereist war, um die Materialien zu kaufen, die ich dann doch nicht besorgt hatte. Gott sei’s gelobt, ich fand die benötigten Garne ganz unten in meinem Korb und war deshalb nicht daran gehindert, die Ausbesserungen durchzuführen. Doch im Augenblick war es mir zu viel Mühe, meine eigenen Stiche unter jene zu mengen, die meine Vorgängerin ziemlich nachlässig angebracht hatte.
Alles, woran ich denken konnte an diesem Tag, da ich eigentlich von einem süßen Atemzug zum nächsten hätte leben und die Arbeit genießen sollen (es hätte ja auch das verachtete Verbuchen der Ausgaben sein können), alles, was mein Herz und meinen Verstand erfüllte, war die Vergangenheit, vor allem mein Sohn Michel und was aus ihm hätte werden können, wäre er mir nicht entrissen worden. Wieder war ein Brief von seinem Bruder aus Avignon eingetroffen, das hatte zumindest ein Bote an diesem Tag gesagt; doch meine Verzweiflung war so tief, dass der Gedanke, ihn zu lesen, mich kaum beflügelte.
Briefe von Michel wären ganz anders gewesen als die, welche ich von seinem Bruder erhielt, vor allem in der Regelmäßigkeit, mit der sie eintrafen. Michels wären bestenfalls gelegentlich gekommen, ganz im Gegensatz zu denen von Jean, die vorhersehbarer waren als meine einstigen Regelblutungen. Ich habe oft darüber nachgedacht, welchen Inhalt die Briefe meines jüngeren Sohnes gehabt haben könnten. Zuvörderst hätte er sie wohl mit der Freude und dem trockenen Humor gefüllt, die sein alltägliches Verhalten auszeichneten. Es hätte viele gute Nachrichten gegeben und nur sehr wenige schlechte, ein offenkundiges Missverhältnis, doch mit der guten Absicht fabriziert, meinen Kummer über einen Sohn zu lindern, der seinen Lebensunterhalt als Krieger verdiente. Alle Mütter von Söhnen, die für Sattel und Schwert geboren sind, haben diese Sorgen, doch bei meinen hatte es sich selbstredend um die einzigen gehandelt, die von Bedeutung waren. Seine rußigen Pergamente wären zerfleddert von irgendeinem Schlachtfeld oder Außenposten eingetroffen, wohin sein Lehnsherr, wer immer das hätte sein mögen, ihn geschickt hatte.
Hätte er Gilles de Rais, dem Spielkameraden seiner Kindheit, gedient? Vielleicht, aber ich glaube es eher nicht. Ich hatte es immer für möglich erachtet, dass ihre so unterschiedlichen Persönlichkeiten letztendlich eine Trennung der Wege erzwingen könnten- Michel war so von Herzen gut, und Milord Gilles schien seinem eigenen Wert nicht zu trauen, nachdem sein Großvater, ein Untier von einem Mann, ihn aus ihm herausgeprügelt hatte.
Kurz vor Michels Verschwinden fiel mir auf, dass Milord oft in Gedanken verloren schien. In dieser Zeit fing er auch an, so viel Zeit wie möglich allein zu verbringen, auch wenn seine speichelleckerischen Cousins De Sille und De Briqueville immer versuchten, sich an ihn zu klammern. Wenn es den Anschein hatte, als wäre er wieder in einer seiner düsteren Tagträumereien versunken, fragte ich meinen jungen Herrn, was er denke, doch es näherte sich die Zeit, da er mich, die Amme seiner Kindheit, abschüttelte, wie eine Schlange eine Haut abstreift, die ihr zu eng wird. Normalerweise beachtete er mich einfach nicht, doch wenn er sprach, behauptetet er oft, er wäre mit seinen eigenen Vorstellungen beschäftigt, doch nur selten verriet er mir, worin diese Vorstellungen bestanden. Oft sagte ich dann »Aha«, als würde ich verstehen, doch ich tat es nicht.
Michel versuchte, Milord in der Zeit nach dem Hinscheiden von Vater und Mutter aus seinem Kummer zu reißen. Er reizte ihn mit beflügelnden Beschäftigungen wie Jagen oder Fechtübungen. Aber seine ernsthaften, von Herzen kommenden Appelle – warum spielst du den Geisterbeschwörer, Bruder, da die Sonne doch so hell und strahlend scheint? Komm, lass uns stattdessen ausreiten und ein paar Füchse mit dem Lärm unserer Schwerter das Fürchten lehren – blieben größtenteils unbeachtet. Ich vermute, es ist nur angemessen, dass man in Zeiten, da man von einem nahe stehenden und geliebten Menschen auf dieser Erde zurückgelassen wird – in Milords Fall von zwei Menschen sehr kurz hintereinander –, die Einsamkeit sucht, um nachzudenken über Tod und Leben und alles, was dem Trauernden gerade in den Sinn kommt. Ich weiß das so gut wie kaum jemand sonst.
Wenn er selbst sein wichtigster Gefährte in diesen dunklen Stimmungen war und nicht gestört werden wollte, war es an Michel, sich selbst zu beschäftigen. Dies tat er mit Lesen oder mit Schattenfechten, oder er maß sich mit seinem Vater in der Kriegskunst, wenn Etienne gerade im Schloss weilte und nicht anderweitig beschäftigt war. Dies kam oft vor in der unruhigen Zeit nach Milord Guys Hinscheiden, denn Jean de Craon war damit beschäftigt, die Besitztümer seiner Tochter zu sichern. Er war tückisch in seiner Entschlossenheit, die einzelnen Liegenschaften als ein Erbe zu erhalten, doch niemand machte ihm das zum Vorwurf, denn wir alle wussten, dass er als Vater nur die Interessen seiner Tochter zu wahren suchte, die nach dem unerwarteten Tod ihres Gatten wie gelähmt war. Doch dann besaß Madame Marie die Unverfrorenheit (einmal hörte ich Jean de Craon sie für diese Unannehmlichkeit verfluchen), selbst zu sterben.
Milord Gilles wurde, im zarten Alter von elf Jahren, in zwei widersprüchliche Positionen gestoßen. In den Augen der Welt war er der unmündige Herr eines riesigen Besitzes, dem noch der kleinste Wunsch von den Augen abgelesen wurde. Zugleich aber war er eine Marionette seines schändlichen Großvaters. Zu dieser Zeit kam es zu einer sichtbaren Entfremdung zwischen ihm und Michel. Davor war der Unterschied ihres Standes kaum von Bedeutung gewesen – sie waren einander wie Brüder. Aber ich nehme an, der Lauf der Zeit verändert alles, einige steigen auf, andere fallen, wie das Schicksal es will. Geliebte Menschen kommen und gehen, wer geht, schickt Briefe, wenn er die Möglichkeit und die Bildung dazu hat.
Briefe von Michel – wenn Gott mir nur einen gewähren würde, und wenn ich zwischen den Zeilen eine vernünftige Erklärung dafür finden könnte, was mit ihm geschehen war, dann würde ich als Gegenleistung Mittel und Wege finden, den Rest meiner Tage ohne Sünde zu leben. Wie würde seine erwachsene Handschrift aussehen? Seine Kinderschrift war dermaßen schwungvoll gewesen … Ich kannte Jeans ordentliche Zeilen, und ich würde mein Seelenheil verwetten, dass ich, wenn man mir tausend Pergamente vorlegte, das von ihm geschriebene herausfinden würde. Die flüssigen Zeilen des Texts, welche die Seite von links nach rechts überquerten, waren so vollkommen gerade wie der Meereshorizont. Ich weiß nicht, ob Michels Zeilen auch so ordentlich verlaufen wären; er war ein viel ungezügelterer Junge als Jean in seinem Alter, bestimmt für die Schlacht, wie sein Vater es gewesen war, ganz im Gegensatz zur Reihenfolge der Geburt, die ihn für die Kirche und Jean für die Schlacht ausersah. Man kann ein Kind nicht zwingen, zu werden, was es nicht sein will, zumindest meiner Meinung nach, auch wenn ich weiß, dass es schon unzählige Male getan worden ist. Aber wir leben in einer modernen Zeit, in der wir unseren Söhnen ein gewisses Maß an Selbstbestimmung gestatten. Michel war nicht geschaffen für den Priesterrock, und Jean wäre sicherlich in seiner ersten Schlacht gefallen, hätte er das Schwert ergriffen. Sollte Michel wirklich tot sein, und gibt es so etwas wie einen angemessenen Abgang, dann würde ich mir wünschen, er hätte die Möglichkeit gehabt, einen Kriegertod zu sterben, denn das wäre für ihn angemessen gewesen.
Mitten in diesen düsteren Gedanken hörte ich, wie mein Name gerufen wurde, oder genauer, mein Titel. Mère sagte furchtsam ein junger Priester, den ich in der Abtei bereits gesehen hatte, aber nicht mit Namen kannte. Er erschreckte mich so, dass mein Stickgarn zu Boden fiel. Der junge Mann kroch fast zu Kreuze in seiner Entschuldigung und schwor, er hätte mich nie gestört, wenn es sich nicht um einen Ruf zu Seiner Eminenz handelte. Ich brauchte eine Weile, um meine Würde wiederzuerlangen, nachdem ich die Garne aufgesammelt hatte. Obwohl ganz offensichtlich verlegen, wartete er geduldig. Mir wäre lieber gewesen, er hätte mich alleine gelassen- den Weg zu Jean de Malestroit würde ich so einfach finden, als hätte er ihn mir mit Brotkrumen vorgezeichnet.
Was würde er heute von mir wollen? Die Stunde gab mir zu denken (vor dem Mittag, eine Zeit, da er normalerweise mit Staatsdingen beschäftigt war), wie auch der Ausdruck auf seinem Gesicht, als ich seine geheiligte Höhle betrat. Zuerst gab Jean de Malestroit mir den Brief, der aus Avignon gekommen war. Ich nickte zum Dank und ließ das Gefühl des Pergaments auf meine Fingerspitzen wirken, doch anstatt sofort davonzuhuschen, um das Siegel zu erbrechen und die Worte zu verschlingen, steckte ich ihn in meinen Ärmel und wartete, auf dass der Bischof über die Angelegenheit sprach, die ihn veranlasst hatte, mich so mitten am Tag zu sich zu rufen. Beim Eintreten sah ich, dass er erregt war; er ging in seiner Kammer auf und ab, als könne er seine Gedanken nicht ordnen.
»Eminenz, wie Ihr es geschafft habt, ein Staatsmann zu werden, verstehe ich nicht.«
Er setzte sich unvermittelt auf seinen hochlehnigen Stuhl und atmete tief, um sich zu beruhigen. »Ach, Guillemette, manchmal verstehe ich es selbst nicht. Der Diplomatenhut passt mir viel weniger als die Mitra.« Er lächelte versonnen und zuckte die Achseln.
»Doch hat noch kein Mann je zwei Hüte mit Behagen und Würde getragen. Dazu bräuchte man zwei Köpfe. Oft bin ich hin und her gerissen, entweder Gott oder Herzog Jean zu enttäuschen, von denen keiner sich besonders gerne enttäuschen lässt.«
Dabei hatte ich ihn die Hüte mit unheimlicher Behändigkeit wechseln sehen. Es hätte mich nicht überrascht zu entdecken, dass Jean de Malestroit einen zweiten Kopf für seinen anderen Hut hatte, versteckt irgendwo, wo niemand danach suchen würde. Ich stellte mir vor, in einem Schrank über das grässliche Ding zu stolpern, einem Schrank mit knarrenden Angeln. Ich würde die Tür öffnen, weil ich einen Docht oder ein Garn oder einen Wetzstein suchte, und dieser Kopf würde mich unter seiner durchgehenden Augenbraue heraus anstarren und mich schnell daran erinnern, dass ich mich um das lästige Geräusch der Angeln kümmern musste.
Oder vielleicht könnte Schwester Elene sich darum kümmern … würde der Kopf mit hinterhältigem Grinsen sagen.
Der gegenwärtige Hutträger riss mich aus meinem Sinnieren mit den Worten: »Ich habe Euch etwas zu sagen.«
Nach einer Pause erwiderte ich: »Ihr klingt, als würdet Ihr meinen, dass es mich nicht erfreut.«
»Ich kann Eure Reaktion nicht voraussehen – nur dass Ihr mit Sicherheit eine zeigen werdet.«
»Sprecht«, sagte ich. »Spannt mich nicht auf die Folter.«
»Nun gut. Es ist Euch nicht gestattet, mit Euren Nachforschungen über das Verschwinden von Kindern fortzufahren.«
Die vorausgesagte Reaktion nahm die Form eines unglücklichen Knotens in meinem Bauch an. Mein Esel würde im Stall bleiben, ich würde nicht wieder ausreiten, sondern im Kloster ausharren und zu meinen Pflichten zurückkehren, anstatt dass Schwester Elene sie übernahm, was für mich, wie ich gern zugebe, eine kleine Erleichterung war. Dennoch war ich sehr enttäuscht. Meine Stimme klang etwas schrill, als ich protestierte. »Eminenz, Ihr habt mir das Privileg mit gutem Grund gewährt. Es bekümmert mich sehr, dass Ihr Eure Meinung so schnell ändert.«
Er erhob sich und lächelte breit. »Es gibt eine sehr gute Erklärung dafür. Herzog Jean hat eine umfängliche Ermittlung angeordnet und jemanden zu deren Leiter ernannt.«
Wieder hatte er mich überrascht. »Aber das ist wundervoll«, sagte ich glücklich. »Wer wurde dafür bestimmt?«
Er zögerte so lange, wie ein Atemzug dauert. »Der Herzog hat jemanden ernannt, von dem er glaubt, dass er einen guten Spürhund abgeben wird.«
Viele der Männer, denen eine solche Aufgabe übertragen werden konnte, waren mir aufgrund meines früheren Dienstes bekannt; vielleicht konnte ich die Arbeit ja in der einen oder der anderen Weise beeinflussen. »Wer?«, fragte ich noch einmal.
»Lasst es uns für den Augenblick dabei belassen. Ich habe heute noch viel zu erledigen, doch ich wollte Euch nur wissen lassen, dass Ihr Euch auf keine Reise mehr vorbereiten müsst. Wir wollen morgen darüber sprechen und dann weiter konspirieren.«
»Eminenz, Ihr seid äußerst grausam – Ihr verurteilt mich für den Rest des Tages zu Mutmaßungen und zu einer Nacht schlafloser Unruhe.«
Er setzte eine verärgerte Miene auf. »Ihr seid ein Dorn, Schwester, an der Rose meines Lebens.«
Ich war ähnlich verärgert, doch, wie mir schien, mit größerer Berechtigung. »Verzeiht mir, lieber Bruder. Aber was wäre eine Rose ohne Dornen?«
»Nun, es wäre die … ach ja, man könnte sie den Inbegriff der Vollkommenheit nennen.«
»Aber leider auch nichts sagend und wenig anregend.«
»Manchmal könnte man ein bisschen weniger Anregung ganz gut gebrauchen.«
»Anregungen dürfen nie missachtet werden, Eminenz. Es wäre eine schwere Sünde, es zu tun, Eures Zorns so würdig wie jede andere Sünde.«
»Ja … nun … vielleicht wäre sie das.« Dann fragte er mit stiller Besorgnis: »Ihr werdet wirklich nicht schlafen?«
»Keine Sekunde.«
Er seufzte. »Ich möchte nicht der Grund dafür sein. Nun gut denn. Aber Ihr müsst schwören, es als Geheimnis zu bewahren.«
»Ich schwöre.«
»Herzog Jean hat mich dazu bestimmt, diese Angelegenheit weiter zu untersuchen.«
Alle seine schwierigen Eigenschaften, die frömmelnde Strenge, die sture Hartnäckigkeit, das reservierte Temperament, das er so oft nutzte, um sich von denen in seiner Umgebung abzusetzen, würden jetzt den Verlauf dieser Ermittlung beeinflussen.
Andererseits war mein Einfluss gesichert.
Letztendlich legte ich die Aufgabe, das Entfernen des getrockneten Schlamms vom Steinboden des Kirchenschiffs zu überwachen, dann doch in die fähigen Hände von Schwester Elene; die Frau schien wirklich dankbar dafür zu sein, was ich nicht verstand. In den braunen Schlamm mischten sich unweigerlich Exkrementbrocken, Hinterlassenschaften von Pferden und Rindern und Ziegen, die täglich durch jede Dorfstraße zogen. So hatte ich nichts dagegen, von dieser Pflicht entbunden zu sein. Unter ihrer Aufsicht würden Novizinnen den getrockneten Unflat aufsammeln und in den Garten bringen, wo er verteilt würde unter den wachsamen Augen von Frère Demien, der in der ganzen Zeit Gott danken würde für Seine Großzügigkeit, ihm solch reichliche Mengen merde in seine Verwaltung zu übergeben. Wir vergeudeten nichts.
Ein neuer Ruf von Jean de Malestroit erreichte mich, als die jungen Schwestern mit ihren Besen und Trögen die Kirche verließen.
»Ich bin bereit, mit den Ermittlungen zu beginnen«, sagte er mir, als ich ankam.
»So schnell?«
»Wie Ihr wisst, Schwester, gehe ich sehr sparsam mit meinen Stunden um. Und den Euren, wie ich wohl sagen darf. Nun möchte ich, dass Ihr mir noch einmal die Geschichten erzählt, die Ihr in Bourgneuf gehört habt, mit allen Einzelheiten, an die Ihr Euch erinnert«, sagte er. »Es wird mir helfen, die Richtung meiner Nachforschungen zu bestimmen.«
Die Schatten sollten kürzer und wieder länger werden, bevor wir zu einem Ende kamen. Wir konnten auch nicht voraussehen, wie viele Tage diese Sache noch in Anspruch nehmen sollte.
Etwa drei Jahre zuvor gab eine Frau namens Catherine Thierry ihren Bruder in die Obhut eines hierher versetzten Parisers, eines gewissen Henriet Griart, damit der Junge in den Kapellenchor von Machecoul aufgenommen werde. Der Junge wurde nie wieder gesehen und wurde auch kein Mitglied des Sprengels, soweit seine Schwester das erfuhr; es gab auch keinerlei Erklärung, was mit ihm passiert sein konnte.
Und dann war da der engelhaft aussehende Guillaume Delit, Guibelets Sohn, der dem Grillmeister beim Bereiten des Fleisches für Gilles de Rais half. Der Küchenchef selbst, Jean vom Château in Briand, sagte der Mutter dieses Knaben, es sei nicht gut, dass der Junge dergestalt helfe, da in der Umgebung von Nantes kleine Kinder gefangen und getötet würden. Die Mutter beklagte sich später bei der Frau des Kochs, dass kurz nach ihrer ersten Anfrage zwei Männer zu ihr gekommen seien und sehr barsch mit ihr gesprochen hätten, dahingehend, dass sie sich besser überhaupt nicht beklage, da es weder ihr noch ihrem Sohn etwas bringe.
Der Sohn von Jean Jenvret war ein Schuljunge von nur neun Jahren, der sich oft in der Umgebung des Hôtel de la Suze in Nantes aufhielt. Seine Familie lebte in der Gemeinde Saint-Croix in Nantes, hatte aber enge Beziehungen zu Bourgneuf. Zwei Jahre zuvor, so erzählte mir seine Schwester, etwa acht Tage vor dem Fest des Heiligen Johannes des Täufers, sei der kleine Jenvret ohne ein Wort verschwunden.
Und in der Gemeinde Notre Dame in Nantes verschwand der Sohn von Jeanne Degrepie etwa um Johanni herum, also nur wenige Tage nach dem Vorfall in Saint-Croix. Seine Mutter berichtete von einer Frau namens Perrine Martin, die angeblich dabei gesehen wurde, wie sie den Jungen wegführte, und später mit ihm auf der Straße nach Machecoul noch einmal gesehen wurde. Keiner hat eine Meinung darüber, warum diese Perrine den Jungen nach Machecoul gebracht haben könnte.
Ein Schuljunge aus der Gemeinde Saint-Donatien in der Nähe von Nantes, ein wunderschönes Kind aus einer Familie namens Fougère, verschwand vor nicht ganz zwei Jahren im August. Es wurde nie eine Spur von ihm gefunden, auch konnte sich kein Mensch erinnern, ihn gesehen zu haben.
Im darauf folgenden Monat September wurde in Roche-Bernard der zehnjährige Sohn von Perrone Loessart einem Mann mit dem merkwürdigen Namen Poitou anvertraut, welcher der Mutter versprach, ihr eifrig lernender Sohn würde weitere Schulbildung erhalten. Später wurde dieser Knabe in Poitous Begleitung auf der Straße nach Machecoul gesehen, wie auch der Sohn von Jean Jenvret mit der Frau Perrine.
Ein Herr aus Port-Launay berichtet von einer Familie namens Bernard, deren Sohn sich eines Tages in Begleitung eines anderen Jungen von ähnlichem Alter nach Machecoul aufmachte, beide, um Almosen zu erflehen, da man ihnen gesagt hatte, dass dort große Freigiebigkeit zu finden sei. Die Hoffnung auf milde Gaben musste sehr stark gewesen sein, um zwei Zwölfjährige zu einer solchen Reise zu verlocken – man muss bei Nantes die Loire überqueren und dann noch viele Kilometer weiterwandern. Der andere Junge, mit dem er unterwegs war, wartete am vereinbarten Punkt drei Stunden auf ihn und war dann gezwungen, allein nach Port-Launay zurückzukehren. Das behauptet die Mutter des vermissten Jungen, die angibt, sich sowohl beim Priester wie auch beim Magistrat bitterlich über das Verschwinden ihres Sohns beklagt zu haben.
In Saint-Cyr-en-Rais, einem Dorf in der Nähe von Bourgneuf, ging der Sohn von Micheau und Guillemette Bouer am Weißen Sonntag letzten Jahres zum Betteln nach Machecoul. Als das Kind nicht zurückkehrte, fragte der Vater in mehreren Orten nach dem Verbleib des jungen, da er gehört hatte, dass andere Kinder ebenfalls verschwunden waren, und fürchtete, dass seinen Sohn dasselbe Schicksal ereilt haben könnte. Aber tags darauf sprach ein großer Mann in einem schwarzen Umhang bei der bekümmerten Mutter vor, während der Vater zu weiteren Nachforschungen unterwegs war. Sie kannte den Mann nicht, doch als er sie fragte, wo ihre Kinder seien, erwiderte sie, sie seien nach Machecoul zum Betteln gegangen, woraufhin der Mann verschwand und nie mehr gesehen wurde.
Ysabeau Hamelin, die seit einem Jahr in Fresnay lebte, nachdem sie im Jahr zuvor aus Pouance gekommen war, schickte ihre beiden Söhne, fünfzehn und sieben Jahre alt, mit Geld nach Machecoul, um Brot zu kaufen. Als sie nicht zurückkehrten, dachte sie zuerst, sie könnten beraubt und für tot liegen gelassen worden sein. Doch als sie und andere ihrer Familie den Weg absuchten, konnten sie keinen Hinweis auf einen Überfall entdecken. Tags darauf kamen zwei Männer zu ihr, um sie nach ihren Kindern zu befragen. Sie hatte Angst und erwähnte ihr Verschwinden nicht. Als die beiden gingen, hörte sie, wie der eine Mann zum anderen sagte, dass zwei der Kinder aus diesem Haus stammten, und so regte sich in ihr der starke Verdacht, die beiden wüssten, was mit ihren Söhnen geschehen sei.
Kurz vor vergangenem Weihnachten schickte Jeanette Drouet, Gattin von Eustache, ihre Söhne von elf und neun Jahren nach Machecoul, um Almosen zu erflehen. Sie sagte, mehrere Leute hätten ihre Söhne in den folgenden Tagen gesehen, sie seien aber nie nach Hause zurückgekehrt, und als sie und ihr Gatte dorthin gingen, um Nachforschungen anzustellen, erfuhren sie überhaupt nichts.
Unser Abendmahl stand unberührt vor uns. Eine schöne Scheibe Lamm, nach sechs Wochen der Fleischlosigkeit eigentlich sehnlichst erhofft, lag nun kalt auf dem Tablett. Keiner von uns hätte auch nur einen Bissen hinuntergebracht.
»Wurde keiner dieser Fälle je gelöst?«, fragte Seine Eminenz ernst.
»Nein. Keiner wurde je zu einem Abschluss gebracht.«
»Keine Überreste? Keine zurückgelassene Kleidung?«
»Nichts.«
Er lehnte sich auf seinem hochlehnigen Stuhl zurück, was mir die Sicht auf das wundervoll bestickte Kissen nahm, das ich sehr bewunderte. Dann legte er die Hände auf die Knie und sagte: »Das scheint mir unmöglich.«
»In der Tat. Oder zumindest sehr unwahrscheinlich.«
»Nun denn …«, sinnierte er, »wir werden dafür sorgen müssen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich denke, es wäre wohl vernünftig, wenn ich mit meinen tieferen Nachforschungen in Machecoul beginne.«
»Ja, Eminenz.«
»In drei Tagen werden wir dorthin reisen«, fügte er entschlossen hinzu.
Das war eine zu lange Wartezeit. »Eminenz, wenn wir dies weiterhin verzögern, geht noch mehr verloren.«
»Guillemette, es gibt wichtige Dinge, die ich zuerst …«
»Kinder, Euer Eminenz – was könnte wichtiger sein als die Seelen der Kleinen.«
Er erbleichte vor Schuldbewusstsein. »Nun gut, dann müssen meine anderen Verpflichtungen wohl warten. Morgen früh dann.«
Ich nickte. Mein Einfluss war auf jeden Fall gesichert.
Wir versahen die Vespern, wie wir es immer tun, und dann entließ mich Jean de Malestroit. Ich ging in die Klosterstallungen, wo ich meine kleine Eselin friedlich an einer Strohgarbe knabbern sah. Ihr Unterkiefer bewegte sich unablässig von einer Seite zur anderen, und das gelbe Gras wurde immer kürzer, bis es schließlich ganz in ihrem zahnreichen Maul verschwand. Ich bückte mich, hob frische Halme auf und hielt sie ihr hin. Mit ihren abgenutzten Zähnen nahm sie sie behutsam aus meiner Hand und kaute sie, während ich ihr liebevoll den Hals kraulte.
»Du bist ein sehr verständnisvolles Tier, Mademoiselle«, flüsterte ich, als wäre sie ein kleines Kind. Sie schüttelte den Kopf, um eine lästige Fliege zu vertreiben, und besprühte mich dabei mit Speicheltröpfchen. Ich wischte mir mit dem Ärmel übers Gesicht.
»Und außerdem sehr überschwänglich«, fügte ich hinzu. »Aber mir macht es nichts. Du hörst mir ohne Widerspruch zu, wie es nur wenige zweibeinige Wesen tun. Und dies ist auch der Grund für meinen Besuch, meine kleine Freundin. Ich würde gern deine Meinung zu einer Sache hören, die mich sehr beschäftigt.«
Sie hob und senkte den Kopf, ein zustimmendes Nicken, fast so, als würde sie verstehen.
»Gut. Dann lass mich dich Folgendes fragen: Wie kommt es, dass diese Kinder ausschließlich in Gilles de Rais’ Reich verschwinden? Und wie kommt es, dass offenbar immer seine Bediensteten die Hand im Spiel haben?«
Sie wurde plötzlich unruhig und schrie.
»Genauso geht es mir auch«, sagte ich. Ich drückte meine Stirn an die ihre und stand einfach nur da, während mir eine Träne über die Wange lief.